Bis wir verbrennen

Im Spätsommer dieses Jahres verbrachte ich einige Zeit gemeinsam mit B. in einem kleinen Ort im Talschluss, umgeben von Bergen. Ein Haus mit zwei Wohnungen, eine im Erdgeschoß, eine im ersten Stock. Kein Auto, eine Busverbindung in den nächsten Ort, wir waren in der Abgeschiedenheit. Ich beschreibe das nicht, um ein Idyll heraufzubeschwören, sondern um Bedingungen für einen Zustand zu benennen, der in der Stadt und im Alltag immer schwieriger herzustellen ist. Zumindest sind B. und ich dieser Ansicht. Wir waren zum Arbeiten gekommen, hatten uns beide viel vorgenommen. Untertags sahen wir einander nie, etwa jeden zweiten Abend setzten wir uns zusammen. Beide schrieben wir nicht nur, wir lasen auch viel oder recherchierten im Internet. Ich sei heute auf youtube von Interview zu Dokumentarfilm zu Vortrag gelangt, erzählte ich, fühlte mich betäubt, leer und nervös. Du spürst wenigstens, was das mit dir macht, meinte B. Die meisten Leute sind die ganze Zeit online. Ich frage mich, was die spüren.

Wenn wir beieinandersaßen, sprachen B. und ich über Energieformen, Bergbau und Erdöl, Bevölkerungspolitik. B. beschäftigte sich mit australischen Ureinwohnern, ich mit europäischen Hexenverbrennungen. Diese weit auseinanderliegenden Felder erwiesen sich als eng verbunden. Es sei immer die Wirtschaft, sagte B., immer die Wirtschaft. Die Hexen wurden verfolgt und die Besitzverhältnisse grundlegend verändert: Einhegung von Land, Abschaffung von Allmenden. Hexen, Hebammen und andere Wissende wurden vernichtet, die bis dahin praktizierte Geburtenkontrolle beendet. Die sogenannte europäische Bevölkerungsexplosion ermöglichte die Eroberung und Besiedelung anderer Kontinente. B. erzählte von einem Stammesältesten. Die Weißen, sagte der, würden den Stämmen zwar auf dem Papier Gebiete zurückgeben, aber sie verstünden einfach nicht, was für eine Beziehung sie, die Ureinwohner, zu dem Land hätten. Nach ein oder zwei oder mehreren Stunden verlangsamte sich unser Gespräch. Oft setzte eine an, noch etwas hinzuzufügen, und ließ es dann doch bleiben. Man kann es nicht richtig machen, sagte B., man kann nichts mehr richtig machen. Zum Abschied, ehe die eine in ihre Wohnung zurückging und die andere in ihrer allein blieb, umarmten wir uns.

Abends fernab der Stadt sprachen B. und ich über das Kalkül hinter den Hexenverfolgungen, über die ideologische Unterfütterung seitens der Kirche, die Verbreitung einer scheinbar irrationalen Raserei. Um den Pakt mit dem Bösen nachzuweisen, stieß man lange Nadeln ins Fleisch, an allen möglichen Stellen des Körpers, der in den meisten Fällen ein Frauenkörper war. Wer nichts spürt, ist des Teufels. Ich erzählte von einer geflüchteten jüdischen Chemikerin, die in Amerika an der Atombombe mitgearbeitet hatte. Als die erste Explosion in der Wüste stattfand, hatte Deutschland bereits kapituliert. Immer wieder Sprengungen, im Bergbau, im Straßenbau, im Krieg, im Atlantik, Sinnbild des technischen Fortschritts: Die Erde aufreißen, wie besessen. B. erwähnte den geifernden Hass gewisser Kreise auf Greta Thunberg, ich zitierte Silvia Federici: „They are gonna burn you“.
Wir fragten uns, wie man sich heutzutage als Schriftstellerin zu verhalten habe. Uns schien, es sei nie dringlicher gewesen, sich zu äußern, Stellung zu beziehen. Die Rolle der Aufklärerin entspricht uns nicht. Es sei doch offensichtlich, was vor sich gehe, dass dieses Wirtschaftssystem unseren Untergang herbeiführe, die Welt auffresse. Dieses Wirtschaftssystem, das von Menschen gemacht ist und betrieben wird. Und es gibt Menschen, die diese Verhältnisse benennen, kenntnisreicher und berufener als wir. Als Schriftstellerin wird man immer wieder um seine Meinung gefragt, zu einem aktuellen Thema, bis morgen, wenn möglich. Eine Meinung ist das Gegenteil von Literatur. Um zu schreiben, muss man sich dem Markt entziehen, den Schlagworten, den Formaten, der Verfügbarkeit und dem Funktionieren. Nur um Literatur zu schreiben? Es gibt kein richtiges und so weiter, sagte ich. Im falschen, sagte B., so ist es.

Verweigerung bedeutet: Man ist außerhalb. Das Nichtbemerktwerden muss man aushalten. An einem der Vormittage fernab der Stadt hielt ich inne. Legte die Hand mit dem Stift hin, horchte und schaute, aus dem Fenster und ins Zimmer. Mir war plötzlich bewusst, dass ich Telefon und Internet abgedreht hatte, dass ich wirklich allein und für mich war. Es bleibt uns nichts anderes zu tun, als immer wieder etwas entgegenzustellen, unermüdlich andere Möglichkeiten auszumalen, zu schreiben: Es gibt Möglichkeiten. Man darf sich nicht ablenken lassen. B. und ich kamen zu dem Schluss, als Schriftstellerin habe man sich zu allen Zeiten gleich zu verhalten, nämlich zu schreiben. Bis wir verbrennen, sagte ich. Woanders brennen sie schon, Erde, Tiere, Menschen. Als Frau müsse man in den Kampf ziehen, mit allen Mitteln. Wir möchten glauben, das Schreiben sei ein Mittel, wenn auch ein privilegiertes, und wünschen uns verzweifelt, dass es ohne Krieg geht.

Im Nachhinein betrachtet waren die Tage in dem Haus fernab der Stadt sehr gute Tage. Ich war in die Versenkung gelangt, auch wenn ich sie nur momentweise als solche erlebte. B. und ich teilten das Unwohlsein, Teil der idyllischen Umgebung zu sein, und wir teilten, wenn uns danach war, unsere Gedanken miteinander. Ich müsse gestehen, sagte ich kurz vor der Abreise, es falle mir schwer, nur einmal am Tag in die Mails zu schauen. Es ist nicht bloß ein erleichtertes Dem-Internet-den-Rücken-Kehren. Es erfordert Disziplin. Es wäre besser, sagte eine von uns, wenn es hier gar kein Internet gäbe. Es sei ein Kampf, sagte die andere. Wir brauchen unseren ganzen Widerstandsgeist. Zum Abschied umarmten wir uns fest und lange.